Die Beinlänge

Als klassische Definition wird sie als Länge des Femurs (Oberschenkelknochen) in Addition mit der Tibia (Unterschenkelknochen) betrachtet. Somit kann man sie als Distanz vom Trochanter major (Rollhügel unter der Hüfte) bis zum Malleolus lateralis (Aussenknöchel) messen. Das hat nichts mit der Hüfte zu tun?!

Die funktionelle Beinlänge wird als anatomische Beinlänge gemessen und zusätzlich bis zum Becken definiert. Dann ist das mit der Hüfte betrachtet. Also bspw. Spina iliaca anterior superior (SIAS) als proximalen Punkt bis zum med./lat. Malleolus (Knöchel). Oft wird dafür als Differenzbestimmung die sogenannte Brettchenmethode genutzt. Dies ist sehr ungenau (+/- 1 cm) und hat von der Gewichtsverteilung über das Fussgewölbe, die Streckung des Sprungelenks, eine Beugung in Knie und/oder Hüfte, sowie Beckenverwringungen sehr viele Einflussparameter.

Dann gibt es noch die anatomische oder reelle Beinlängendifferenz (BLD). Diese wird von einer  Längenasymmetrie von Ober- und/oder Unterschenkel zur idiopathische Beinlängendifferenzen/Beckenschiefstand unterteilt in vollständig/teilweise funktioneller Genese differnziert. In Summe wird hier aber davon ausgegangen, dass diese jedoch meist weniger als 2 cm beträgt.

Diese verwirrenden Informationen sind bereits für die Profis oft nicht klar zu unterscheiden. Es gibt keinen guten Konsens und führt leider sehr oft zur Verwirrung von Patienten!

Daher darf man in der Literatur immer Shapiro F (1982 aus Developmental patterns in lower-extremity length discrepancies) zitieren: „Das Entwicklungsmuster einer Beinlängendifferenz ist nur selten linear, sondern folgt den Gesetzen der zugrundeliegenden Pathologie“

Damit ist man genauso schlau als wie zuvor…

Laut WHO (Weltgesundheitsorganisation) haben 7/10 Personen eine BLD. Bei ca. 1/1000 Menschen erfolgte bereits ein konservativer Beinlängenausgleich, der dann aber wieder weggelassen wird. Eine militärische Reihenuntersuchung an gesunden Rekruten zeigte Differenzen zwischen 0,5 und 1,5 cm bei ca. 32 % und solche von mehr als 1,5 cm bei ca. 4 % der jungen Männer (Hellsing AL: Leg length inequality. A prospective study of young men during their military service. Ups J  Med Sci 1988; 93: 245–53)

Im Deutschen Ärzteblatt gab es 2020 einen sehr guten Artikel dazu und dieser subsummiert dazu, dass Beinlängendifferenzen ab 1 cm ein asymmetrisches Gangbild erzeugen KANN.

Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 405-11

Nach Hüftprothese (HTEP)

Durch die Implantation des „Ersatzteils“ kommt es häufig zur Verlängerung, bzw. BLD.

Es gibt wie oben ausgeführt keine einheitliche Grenze, ab wie viel mm-Abweichung zur Gegenseite von einer Beinlängendifferenz gesprochen wird (Parvizi J, Sharkey PF, Bissett GA, Rothman RH, Hozack WJ. Surgical treatment of limb-length discrepancy following total hip arthroplasty. J Bone Joint Surg Am. 2003;85-A(12):2310-7). Die sogenannte Prävalenz der BLD nach HTEP liegt bei 16 % und ist damit kleiner als bei den oben genannten Zahlen in der Normalbevölklerung (!) (Jasty M, Webster W, Harris W. Management of limb length inequality during total hip replacement. Clin Orthop Relat Res. 1996; 333:165-71).

Es gibt Reihenuntersuchungen mit Verlängerung des operierten Bein in 144 von 150 Fällen um 15,9 ± 9,54 mm (Williamson JA, Reckling FW. Limb length discrepancy and related problems following total hip          joint replacement. Clin Orthop Relat Res. 1978; 134:135-8).

Diese Ausführungen und die Konditionierung durch Therapeuten und das Umfeld führt leider dazu, dass Beinlängenunterschiede nicht selten Gegenstand von juristischen Auseinandersetzungen werden. Das hilft keinem…

Eine Differenz nach OP ohne Differenz vor der OP kann also circa um einen Zentimeter immer sein. Nach der OP ist das Bein immer erstmal länger und der Körper regelt das als so genannte ‚funktionelle Differenz‘ in den ersten Monaten dann auch nochmal im Rahmen der Heiliungsphase. Deswegen bestimmt man das die ersten Monate grundsätzlich nicht. 

Die ‚anatomische Differenz‘ der Beinlänge bis zu einem Zentimeter ist durch das Wachstum auch normal. Fragen Sie mal einen Maßschneider neben der oben ausgeführten Literatur.

Das führt dazu, dass man in Summe der beiden Parameter unter zwei Zentimeter auch nicht mehr unbedingt ausgleichen soll.  (Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 405-11)

Dazu kommt, dass das kaputte Gelenk natürlich abgelaufen ist vor der OP und auch immer kürzer ist. Das wird im Rahmen der OP rekonstruiert.

In Summe darf also festgestellt werden, dass es eine schlechte Evidenzlage zur Indikation einer Therapie gibt (auch keine Leitlinie). Es gibt auch eine schwache Evidenzlage potentieller Spätschäden (wer heilt, hat Recht). Es gibt keine prospektive oder retrospektive Studie: natürliche Verlauf versus therapierter Verlauf…

Zusammenfassung

  • Brettchenmethode semi-genau
  • Maßbandmethode noch ungenauer – Röntgen besser, aber erst vor OP indiziert
  • Skoliosen können im Wachstum durch Beinlängenausgleich reduziert werden
  • BLD von >1 cm im Wachstum auf 1 cm ausgleichen?
  • Skoliose nach Wachstumsabschluss ohne Ausgleich nicht progredient, mit Ausgleich aber gut korrigierbar
  • nach Wachstumsabschluss auf 2 cm Restdifferenz ausgleichen
  • Wachstumsbremsung eher für moderate BLD (2 und 5 cm)
  • Verlängerung aufwendig, langwierig und hohes Komplikationspotential 
  • Erwachsenenalter: Therapie der BLD ab 2 cm!
  • konservative Maßnahmen (aus kosmetischen und/oder funktionellen Gründen) keine Akzeptanz – evtl. operativer Ausgleich?

Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 405-11

Dieses Thema hat meine Oberärztin Frau Dr. Jahr exzellent auf dem letzten Qualitätszirkel vorgetragen und aufbereitet. Ich danke sehr für die Unterstützung und Zusammentragen der oben genannten Fakten.